Kristallographie in Forschung und Lehre

Mit der Entdeckung der periodischen Anordnung der Atome in Kristallen durch Max von Laue 1912 in München entwicklete sich die moderne, strukturell-atomistisch ausgerichtete Kristallographie. Ihre Ergebnisse führten zu gravierenden Änderungen im „Weltbild“ von Chemie, Physik, Geowissenschaften und Werkstoffwissenschaften. Dies etablierte die Kristallographie als Grundlagenfach für das Verständnis der kondensierten Materie.

Die wichtigsten Beiträge der Kristallographie zur Forschung in Naturwissenschaft und Technik lassen sich wie folgt charakterisieren:

  • Die Symmetrie, insbesondere die Theorie der Raumgruppen, bildet die Grundlage für das Verständnis des Kristallbaus sowie von Phasenumwandlungen und Domänenstrukturen. Symmetrien in vier und mehr Dimensionen beschreiben modulierte Strukturen und Quasikristalle.
  • Basis für die Untersuchung und Anwendung kristalliner Stoffe und ihrer Defekte sind die Kristallzüchtung und das Verständnis der Kristallwachstumsprozesse.
  • Die systematische Analyse des Aufbaus polykristalliner Stoffe und die daraus resultierende Kenntnis ihrer Materialeigenschaften haben unmittelbare Bedeutung für Werkstoffwissenschaften und technische Anwendungen.
  • Die Methoden der Kristallstrukturanalyse sowie ihre ständig wachsende Automatisierung haben einen ungeahnten Aufschwung erfahren: Heute sind mehr als 120.000 Kristallstrukturen bekannt, mit einem Zuwachs von etwa 8% pro Jahr.
  • In der Biologie löste die Strukturaufklärung der DNS-Doppelhelix eine stürmische Entwicklung der Molekularbiologie aus. Weiter gestatten kristallographische Methoden, komplizierte dreidimensionale Strukturen der aus Tausenden von Atomen bestehenden Proteine (Eiweiße) in einem solchen Detail zu ermitteln, daß Aussagen über ihre chemischen und biologischen Funktionen möglich werden.
  • Die systematische Erfassung und Interpretation der Fülle kristallographischer Daten, vor allem in Chemie, Mineralogie, Biologie und Materialwissenschaften, erfordert die Entwicklung und den Einsatz großer Datenbanken.
  • Ein gegenwärtig sehr aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Abweichung von der strengen Gitterordnung: Baufehler, Ordnungs-Unordnungserscheinungen, Pseudosymmetrien, modulierte Strukturen.
  • Die makroskopisch anistropen physikalischen Eigenschaften von Kristallen werden durch Tensoren beschrieben und finden zunhemend eine atomistische Interpretation. Sie sind wesentlich für das Verständnis der Beziehungen zwischen Struktur und (technischen) Eigenschaften.
  • In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern anderer Fächer entstehen neue physikalische Methoden und Instrumente mit typisch kristallographischer Zielsetzung. Sie führen zu qualitativ neuartigen oder quantitativ umfangreicheren Ergebnissen.

Zahlreiche Nobelpreise für Physik, Chemie und Medizin wurden für kristallographisch orientierte Forschungen vergeben, beginnend 1914 mit von laue und 1915 mit den beiden Braggs bis hin zu Deisenhofer, Huber und Michel 1988 für Beiträge zur Photosynthese.

Die interdisplinäre Einbettung der Kristallographie schlägt sich auch in der Lehre des Faches nieder:

  • Die Studenten erhalten vertiefte Kenntnisse in benachbarten Fachgebieten: Vorwiegend stofflich ausgerichtete Chemiker, Mineralogen und Biologen werden mit physikalischen Techniken und Meßmethoden vertraut gemacht. Physikalisch orientierte Studenten lernen „Substanz-Denken“ und werden mit der Vielfalt komplizierter Strukturen und Symmetrien konfrontiert.
  • Intensiver Umgang mit praktischer Mathematik, mit der Verarbeitung großer Mengen von Daten, mit Computern und Programmsystemen.
  • Überblick über alle Aspekte eines Festkörpers, von Synthese und Züchtung über Struktur und Kristalldefekte bis zu subtilen, auch technisch interessanten Eigenschaften von Kristallen und Vielkristallsystemen.
  • Für Studenten, die Kristallographie als Haupt- oder Nebenfach betreiben, bieten sich attraktive Ausbildungschancen sowie vielseitige Berufsmöglichkeiten in der Industrie und in Forschungsinstituten, da der Bedarf an kristallographisch ausgebildetem Nachwuchs das Angebot deutlich übersteigt.

Seit Seit langem ist Kristallographie als Kernfach im Diplomstudiengang Mineralogie fest etabliert. An zahlreichen Universitäten ist Kristallographie Wahlfach in verschiedenen anderen Diplom-Studiengängen; an einigen Hochschulen ist sie für Werkstoffwissenschaften bereits obligatorisch. In der Humboldt-Universität Berlin und in Leipzig hat Kristallographie einen eigenen Diplomstudiengang.