Kristallographie in Mineralogie, Chemie und Physik

Mineralogie

Eines der ersten bedeutenden Ergebnisse der Röntgenstrukturanalyse nach 1912 war die noch heute gültige strukturell-kristallchemische Mineralsystematik für Oxide, Sulfide und Silikate. Insbesondere die Entdeckung der vielfältigen und komplexen Tetraederverknüpfungen in der mineralogisch grundlegenden Gruppe der Silikate führte zu wichtigen Erkenntnissen über gesteinsbildende und technische Prozesse. Verbreitet bei Mineralien sind zum einen Phasenumwandlungen als Funktion von Temperatur und Druck (Polymorphie), zum anderen weitgehende atomare Substitutionen (Mischkristalle); besondere petrologische Bedeutung kommt den Si/Al-Ordnungs-Unordnungsvorgängen in Feldspäten zu.

In den Geowissenschaften tragen diese kristallographischen Forschungen zum Verständnis des Aufbaus der Erdkruste und des oberen Erdmantels, des Mondes und der Meteoriten, sowie der dort, häufig in geologischen Zeiträumen, ablaufenden zeitabhängigen Reaktionen bei.Die Geochemie nutzt kristallographische Ergebnisse für die Geo-Thermo-Barometrie, für die Entwicklung von Modellen über Mond und Planeten, sowie in neuester Zeit auch zum Umweltschutz. Die Technische Mineralogie setzt kristallographische Methoden und Vorstellungen zur Verbesserung technischer Stoffe und Verfahren ein.

Chemie

Im Bereich der Molekülchemie hat die stürmische Entwicklung der modernen Röntgen-Kristallstrukturanalyse dazu geführt, daß sie heute die hauptsächliche Methode der Konstitutionsforschung von kleinen Molekülen bis hin zu Polymeren und Proteinen geworden ist. Sie wird in Forschungsinstituten und Industrielaboratorien zur Charakterisierung der Produkte sowie zur Beurteilung von Synthesestrategien routinemäßig eingesetzt. Bisher sind etwa 70.000 Strukturen von Molekülkristallen aufgeklärt worden.

Die Festkörperchemie erhielt durch die Ergebnisse der Strukturanalyse ein grundlegend neues Konzept: Der Ersatz der reinen Molekülvorstellung des 19. Jahrhunderts durch die „Kollektivstruktur“ des Festkörpers, in dem die Atome dreidimensional miteinander verknüpft sind. Weiterhin wurde die Nicht-Stöchiometrie verstanden, insbesondere die bis dahin unerklärbare „Phasenbreite“ intermetallischer Verbindungen. Erst die Kristallstrukturanalyse hat ein tieferes Verständnis der „Natur der chemischen Bidnung“ in Festkörpern möglich gemacht, u.a. durch die direkte Abbildung der Valenzelektronen.

Durch diese Entwicklungen gelingt es, wichtige physikalische Eigenschaften der Festkörper besser zu verstehen und damit Lücken in der Festkörperforschung zwischen Chemie und Physik zu verkleinern.

Physik

Die Beziehungen zwischen Physik und Kristallographie sind traditionell besonders eng. Dies beruht zum einen auf den von Kristallographen vorwiegend angewandten physikalischen Techniken, die von der Beugung und Topographie bis zur Spektroskopie reichen, zum anderen auf der großen Bedeutung kristallographischer Forschungsergebnisse für verschiedene Gebiete der Physik.

Im Bereich der Festkörperphysik seien diese Beziehungen durch zwei Beispiele verdeutlicht: Die Kristallographie stellt Kristalle mit Strukturen zunehmender Komplexität für physikalische Experimente und deren atomistische Interpretation zur Verfügung: Von Diamant und Graphit bis zu Ferroelektrika und niedrig-dimensionalen elektrischen Leitern. Typisch kristallographische Konzepte, wie z.B. Verzerrung von Koordinationspolyedern im Kristallfeld, Domänenstrukturen (Zwillinge) und strukturelle Fehlordnungen, finden unmittelbare Anwendung in der physikalischen Forschung.

Die Theorie der Raumgruppen und ihrer Darstellungen hat sich zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für die theoretische Behandlung von Phasenumwandlungen, der chemischen Bindung (Bandstruktur), der Brillouin-Zonen sowie der thermischen Schwingungen in Kristallen (Phonoendispersion, Gitterdynamik) entwickelt.