Kristallographie heute – ein modernes, interdisziplinäres Forschungsgebiet

Die Kristallographie entwicklete sich ursprünglich aus dem Studium der Morphologie und der Anisotropie physikalischer Eigenschaften von Kristallen natürlich vorkommender Minerale. Dementsprechend war die Kristallographie in Mitteleuropa zunächst eng mit den Erdwissenschaften verknüpft. Nach der Entdeckung der Röntgenbeugung durch Max von Laue (1912) wurde die Aufklärung der atomaren Struktur kristallisierter Materie zu einem Hauptanliegen der Kristallographie. In der Folgen entwickelten sich die Chemiker zu den Hauptanwendern kristallographischer Methoden. Enorme Wachstumsraten verzeichnete in den letzten 2 Jahrzehnten insbesondere die Biokristallographie bei der Analayse biologisch relevanter Makromoleküle (Viren, Proteine etc.) und beim Design neuer Medikamente. Weniger spektakulär aber mit spürbaren Konsequenzen für unser tägliches Leben verlief die Entwicklung in der praxisbezogenen Forschung. Die modernen Methoden der Züchtung und Charakterisierung haben große Einkristalle hoher Qualität verschiedener Substanzen verfügbar gemacht, die aus vielen Bereichen der Technologie heute nicht mehr wegzudenken sind. Dazu gehören unter anderem Anwendungen in der Halbleiterelektronik, Optoelektronik und Ultraschalltechnik, als auch der Einsatz in Festkörperlasern und Strahlungsdetektoren, als optische Speicher, Magnete oder piezoelektrische Weggeber und Sensoren .

Durch die rasanten Entwicklungen in nahezu allen Bereichen werden die Grenzen zu benachbarten Displinen wie z.B. der Festköperphysik, der Chemie, den Erd- und Materialwissenschaften sowie der Biologie und Pharmazie zunehmend fließender. Konnten man noch vor wenigen Jahren zumindest behaupten, daß sich die Kristallographie durch die Objekte definiert, welche sei untersucht, so trifft dies heute immer seltener zu. Kristallographische Methoden werden auf dünne Schichten, auf aperiodische Kristalle (Quasikristalle) und auf amorphe Substanzen (z.B. Gläser, Polymere) angewandt.

Die Kristallographie ist heute ein Forschungsgebiet, welches wie kaum ein anderes interdisziplinären Charakter besitzt. Das Besondere ist dabei die holistische Sichtweise der untersuchten Materialien. Der Physiker ist möglicherweise an den physikalischen Eigenschaften eines Kristalls oder an einem speziellen Effekt interessiert, für den Chemiker stehen Synthese, Reaktionen und chemische Bindungen von Molekülen im Vordergrund und der Materialwissenschaftler studiert und modelliert z.B. Realstruktur, Mikrostruktur und Eigenschaften seiner Stoffe. Aus der Sicht des Kristallographen stellen diese Aspekte aber nur verschiedene Facetten des gleichen Objekts namens Kristall dar. Er versucht ein einheitliches Bild der Korrelationen zwischen chemischer Zusammensetzung, Struktur und den Eigenschaften eines Materials zu erhalten.

Die zahlreichen Facetten moderner kristallographischer Forschung spiegeln sich auch in der Vielfalt der Beiträge zu nationalen und internationalen Tagungen wieder. Die nachfolgende Abbildung zeigt nach Forschungsgebieten aufgeschlüsselt die Anzahl der Seiten entsprechender Beiträge im Tagungsband (Acta Crystallogr. A52, 1996, supplement) der letzten Konferenz der International Union of Crystallography (IUCR-XVI, Seattle, 1996).