Kristallographie in den Materialwissenschaften

Züchtung und Anwendung von Einkristallen

Eine systematische und umfassende Klärung der physikalischen und physikalisch-chemischen Eigenschaften kristallisierter Materie erfordert die Verfügbarkeit großer Kristalle hoher Qualität. Ihre Züchtung und Charakterisierung gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Kristallographie bei der Entwicklung neuer Materialien, die in engem Zusammenhang mit technologischen Anwendungen stehen, z.B. in Fachgebieten wie Halbleiterelektronik, integrierte Optik, Optoelektronik, Ultraschalltechnik, Hochfrequenztechnik, Festkörperlaser, Strahlungsdetektoren, optische Speicher, piezo-elektrische Weggeber, Elemente für die Energie-Konversion sowie synthetische Edelsteine und Hartstoffe. Ein Verbesserung der technologisch relevanten Eigenschaften kristalliner Werkstoffe setzt fast immer eine gründliche Kenntnis der entsprechenden Eigenschaften der einkristallinen Körper, einschließlich ihrer Defekte (Realstruktur) voraus

Polykristalline Systeme

Die meisten Werkstoffe wie Metalle, keramische Stoffe und teilkristalline Polymere besitzen einen polykristallinen Aufbau. Gleiches gilt auch für fast alle in den Geowissenschaften untersuchten Stoffen der Erdkruste. Ein quantitatives Verständnis der Eigenschaften solcher Stoffe muß von der Kristallstruktur und den Eigenschaften des einzelnen Kristalliten ausgehen. Hinzu treten zahlreiche weitere Strukturparameter, die das polykristalline Aggregat charakterisieren. Dies sind statistische Verteilungsfunktionen der Größe, Form und Anordnung (Gefügeparameter) sowie der kristallographischen Orientierung (Texturparameter) der Kristallite im Aggregat. Diese Parameter bestimmen typische Aggregateigenschaften wie Makroanistropie, Mikroheterogenität, Korngrenzenheterogenität sowie Porosität. Zur Untersuchung der Vielkristallparameter dienen vornehmlich mikroskopisch-abbildende Methoden sowie Beugungsmethoden mittels Röntgenstrahlen, Elektronen oder Neutronen (Kristallographie des Vielkristalls).

Polykristalline Aggregate entstehen oder werden modifiziert durch Festkörperprozesse aller Art wie primäre Kristallisation, plastische Verformung, Rekristallisation, Phasenumwandlungen sowie starre Rotation von Kristalliten. Das Studium insbesondere der Orientierungsparameter des Polykristalls ist daher eine sehr aussagefähige Methode zum Studium dieser Prozesse selbst. In der Geologie geben diese Parameter Auskunft über Prozesse, die vor Jahrmillionen abgelaufen sind. Festkörperprozesse im Polykristall sind die Basis für die Herstellung sehr verschiedener polykristalliner Werkstoffe mit gewünschten makroskopischen Eigenschaften. Dies gilt speziell für viele neue „High-Tech“-Werkstoffe, wie intermetallische Phasen, Struktur- und Funktionskeramiken, Hochtemperatur-Supraleiter, Hartstoffbeschichtungsmaterialien, Flüssigkristall-Polymere, etc. Diese Werkstoffe bestehen oft aus Kristallen mit komplizierten Kristallstrukturen und starken Anistropien. Ihre Entwicklung erfolgt auf kristallographischer Grundlage. Die Kristallographie polykristalliner Aggregate ist daher besonders eng mit den modernen Materialwissenschaften verbunden.

Eine spezielle Arbeitsrichtung (powder diffraction) befaßt sich mit der Analyse von Vielkristallbeugungsdiagrammen mit dem Ziel der Kristallstrukturanalyse, Phasenanalyse, Spannungsmessung, Texturanalyse, sowie der Bestimmung von Gitterbaufehlern. Ein zentrales Problem dieser Arbeistrichtung ist die mathematische „Entfaltung“ von Beugungsdiagrammen bei beliebiger Orientierungsverteilung der Kristallite des polykristallinen Systems.